Montag, 14. Juni 2010

Guatemalas (un)heilige Allianz des Fortschritts: Liberalismus, Kulturrassismus und Kaffee-Export im 19. Jahrhundert

(...) Zum Modernisierungsrausch der Liberalen gehörte es, Aufstiegsoptimismus zu verbreiten. Das Schicksal des Einzelnen hänge von seiner Bereitschaft ab, Eigenverantwortung zu übernehmen. Jeder Besitzende sei ein Beispiel, dass man es durch Tüchtigkeit zu Reichtum bringen könne. Voraussetzung sei der Ausbau der Bildung. In einer Festrede von 1875 tritt der "Bildungsfetischismus" besonders deutlich zutage:

"Der Einfluß der Bildung ist, wie Sie sehr wohl wissen, etwas wunderbares; sie verwandelt alles wie durch Zauberkraft. Vergleichen Sie nur ... ein Individuum der indianischen Rasse, das für das Licht der Zivilisation ganz unzugänglich zu sein scheint; vergleichen Sie ihn, sage ich, mit einem Dorfbewohner der Nationen, die die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht erreicht haben. Sie werden finden, daß der erstere auf dem Land dahinvegetiert ...; in seinen Anbaumethoden und seinem ganzen Verhalten ist er ein Gewohnheitsmensch, und es ist fast unmöglich, daß er irgendetwas anders macht als seine Vorväter ... Wenn man zu ihm von der Religion spricht, stellt sich heraus, daß er gar keine hat ... Er ersetzt sie durch einen rein sinnlichen Götzendienst. Nicht so der Landwirt ...; der mit dem heiligen Öl der Bildung gesalbt ist ... In seinen Anbaumethoden führt er bewunderungswürdige Verbesserungen ein, dank der ... Kenntnisse, die er sich über die Naturerscheinungen angeeignet hat." [27]


In der liberalen Rhetorik sollten gleiche Ausbildungschancen für alle die Grundlagen dafür schaffen, dass jeder eine seinem Talent und Fleiß entsprechende soziale Stellung bekäme. Auch die rückständigen Indígenas müssten in das neue Bildungssystem integriert und so Teil des modernen guatemaltekischen Nationalstaats werden. Zum einen aber ließen unerfüllte Bildungsversprechen den Indígenas kaum Möglichkeiten zum Aufstieg innerhalb der liberalen Gesellschaft. Vor allem jedoch verbarg das euphorische Szenario des individuellen Erfolgsweges völlig, dass das liberale Modell gar nicht auf freien Entscheidungen, sondern auf kultureller Zwangsassimilation beruhte. "Im Sinne einer evolutionistischen Ideologie von Rassenhierarchien sollten die als höher entwickelt geltenden spanischen und mestizischen Bevölkerungsgruppen den 'zurückgebliebenen' Teilen (als diese galten die Indígenas) helfen, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Die Reaktion, daß dieses Bestreben von vielen Indígenas zurückgewiesen wurde, verstanden die criollos (...) wiederum nicht und sahen ihr Vorurteil von der 'Ignoranz' der Indígenas bestätigt."[28] Der Versuch der Indígenas, ihre kulturelle Identität zu schützen, wurde von der Modernisierungselite als mangelnde Anpassungsleistung gewertet. Jeder, der sich weiterhin gegen die Moderne und für kulturelle Rückständigkeit entschied, hätte also seine sozioökonomische Marginalisierung selbst zu verantworten. Mit dieser Schuldzuweisung konnte die Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher (Klassen)Realität und dem auf Chancengleichheit basierenden Partizipationsversprechen des liberalen Bürgertums gerechtfertigt werden. (...)

http://www.sopos.org/aufsaetze/4bf657308549e/1.phtml

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